#NRWIR haben keine Wahl – Können Sozialdemokrat*innen Menschen in ein Kriegsgebiet abschieben?
Nedaje Afghan besucht Veranstaltung mit Hannelore Kraft in Neuss (24.04.2017), ein Bericht mehrerer Teilnehmer*innen
Am Montagabend, am selben Abend, an dem die mittlerweile fünfte, bundesweite Sammelabschiebung nach Afghanistan stattfand, machten sich Vertreter*innen des Bündnisses Nedaje Afghan – Afghanischer Aufschrei auf den Weg ins Neusser Zeughaus.
Im Rahmen des Landtagswahlkampfes der SPD veranstalteten dort Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und lokale Kandidat*innen der SPD eine „Bürger*innen-Diskussion“. Diese Gelegenheit wollten die afghanischen Geflüchteten und ihre Unterstützer*innen nutzen, um die Ministerpräsidentin zu den stattfindenden Abschiebungen öffentlich zur Rede zu stellen.
SPD hält hartnäckig an Abschiebungen nach Afghanistan fest
Trotz des offenen Koalitionsstreits zwischen Grünen und SPD in der Landesregierung hatte NRW zu der Sammelabschiebung am Montag 9 Menschen angemeldet.
Drei Wochen vor der Landtagswahl fordern die NRW-Grünen einen landesweiten 3-monatigen Abschiebestopp für Afghanistan, als Zwischenlösung, bis die Bundesregierung eine Neubewertung der Sicherheitslage vorgenommen hat, die dem tatsächlichen Kriegszustand des Landes Rechnung trägt. Ein solcher Abschiebestopp kann eigenständig aus völkerrechtlichen und humanitären Gründen von den Landesregierungen beschlossen werden, wie dies auch z.B. Schleswig-Holstein mit Verweis auf den letzten UNHCR Bericht zur Sicherheitslage in Afghanistan getan hat.
#NRWIR – Von Abschiebung bedrohte Afghan_innen unerwünscht
Die ca. 15 Personen zogen schon vor Veranstaltungsbeginn die Aufmerksamkeit der Organisator*innen auf sich, als sie lediglich vor dem Gebäude auf den Beginn der Veranstaltung warteten – dabei hatten sie bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ihre Schilder und Transparente ausgepackt.
Im Gespräch mit den Organisator*innen wurde schnell deutlich, dass die ganze Aufregung aus der Sorge rührte, „man könne die Wahlkampfveranstaltung unangemessen stören“. Deshalb schlug ein SPD-„Verhandlungstrupp“ den Aktivist*innen ein „exklusives“ Gespräch mit Hannelore Kraft vor, doch nur unter der Bedingung, dass dieses außerhalb und vor der Veranstaltung stattfindet und Betroffene und Unterstützer*innen „im Gegenzug“ nicht an der öffentlichen Veranstaltung teilnehmen würden.
Ein Hauptanliegen des Bündnisses Nedaje Afghan jedoch ist und war es, Öffentlichkeit für die Unmenschlichkeit der Abschiebungen herzustellen und eben öffentlich Erklärungen für diese Missachtung der Menschenrechte von Frau Kraft als Kopf der Landesregierung einzufordern – anstatt mit ihr ausschließlich ein Hinterzimmergespräch zu führen, wo die Kritik still und heimlich verklingt.
Da ein Gespräch mit Kraft UND die anschließende Teilnahme an der Veranstaltung nicht zugelassen worden wären, gaben die Abschiebungsgegner*innen der öffentlichen Diskussion den Vorzug. Die letzte Spitze: Trotz offizieller Anmeldung und obwohl sie ihre Schilder und Banner bereits draußen abgestellt hatten, sollten sie dann plötzlich nur noch Zugang zur Veranstaltung bekommen, wenn sie auch noch ihre Taschen und Rucksäcke abgeben würden. Dies wurde jedoch abgelehnt, würde die SPD es nicht auch von allen anderen Besucher*innen verlangen. Letztlich wurde den 15 Personen dann doch noch der Zugang zur „Diskussionsveranstaltung“ gewährt…
Die Märchen der Hannelore Kraft
Diskussion hieß in diesem Fall, dass die Zuschauer*innen je eine Frage auf ein Kärtchen schreiben durften. Eine Auswahl der Fragen wurde dann von Frau Kraft beantwortet. Rückfragen und eigene Beiträge waren untersagt, was eine tatsächliche inhaltliche und realistische Auseinandersetzung mit dem Thema „Abschiebungen nach Afghanistan“ (und anderen Themen) verunmöglichte. Die Beteiligten schrieben also ihre Fragen auf unangemessen kleine Kärtchen und Frau Kraft konnte ihre Version der „fairen Abschiebungen light“ ohne Widerspruchsmöglichkeit verkaufen. Dabei blendete sie die tatsächliche, lebensbedrohliche Realität tausender von Abschiebung bedrohter Menschen, auch in NRW, aus.
Hannelore Kraft äußerte sich nicht zu der Möglichkeit des oben erwähnten temporären Abschiebestopps, der innerhalb weniger Tage in NRW eingelegt werden könnte, gab sich aber gleichzeitig vermeintlich menschlich: Sie sei froh, nicht selber entscheiden zu müssen, wer gehen muss und wer bleiben darf. Und betonte ihre Dankbarkeit den Engagierten gegenüber, die sich für Geflüchtete einsetzten. Wie zynisch eine solche Aussage ist, wenn man selbst zu jenen „Engagierten“ gehört und zusehen muss wie Menschen, die man kennt, aufgrund von politischen Interessen in Elend und Lebensgefahr geschickt werden, das können Politiker*innen wie sie nicht verstehen!
Ihren Neusser Zuhörer*innen erklärte sie, dass neben den „Straftätern und Gefährdern“ ausschließlich alleinstehende Männer mit Familienstrukturen vor Ort zurückgebracht werden würden.
Warum Menschenrechte nicht auch für diese Personengruppen gelten sollen und warum ihr Tod durch die Abschiebung in Kauf genommen werden kann, erklärte Frau Kraft nicht. Gerade alleinstehende Männer sind besonders von Zwangsrekrutierungen durch die Taliban, den IS oder andere Warlords betroffen. Die Rechtskonstruktion „Gefährder“ – eine Einstufung die ohne gerichtlichen Beschluss durchgeführt wird – und die quasi Todesstrafe durch Abschiebung für Straftäter, machen deutlich, wie es um den von Frau Kraft angerufenen Rechtsstaat steht.
Frau Krafts Vorstellung, der Staat würde nur verwalten und keine politischen Entscheidungen treffen, ist ein trauriger Beweis für die schleichende Transformation der Demokratie in einen technokratischen Apparat. Daher wolle sie „keine politischen Entscheidungen über diese Rechtsentscheidungen stellen“ und blendet dabei aus, auf welchen menschenverachtenden politischen Grundlagen die BAMF Ablehnungen und das „Abschiebeabkommen“ mit Afghanistan im Oktober letzten Jahres fußen.
Berichte der letzten vier Monate von Pro Asyl, arte, Monitor, Zeit, FAZ u.v.m. entlarven zudem ihre Aussage zu den vorhandenen Familienstrukturen und ihre „light-Version“ als im besten Falle Unwissenheit, im schlimmsten Fall als infame Lüge. Die Minsterpräsidentin „#NRWIR“s scheint auch nicht zu wissen, dass auch Minderjährige und nicht selten Familien, die laut ihrer Aussage auf keinen Fall abgeschoben werden würden, Ablehnungsbescheide ihres Asylantrages und darauffolgend Ausreiseaufforderungen erhalten.
Zur Situation in dem Kriegsland begnügte sich Kraft mit der lapidaren Aussage: „Ich kenne mich in Afghanistan ja nicht so gut aus.“ und: „Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland, niemand behauptet das.“. Damit hat sich die Sache für sie und viele andere SPD-Politiker*innen anscheinend inhaltlich erledigt.
Hannelore Kraft sieht infolge dessen keine politische Verantwortung, wenn durch Abschiebungen bewusst der direkte oder nachfolgende Tod von abgeschobenen Zivilist*innen in Kauf genommen wird. Die Berichte über die abgeschobenen Menschen, Interviews, die ihre verzweifelte undlebensgefährliche Lage in Afghanistan zeigen – und die über Suizide und Suizidversuche von Abschiebungsbedrohten hier in Deutschland – können zahlreich verfolgt werden (arte, Monitor, Die Zeit, Sueddeutsche, FAZ u.v.m.). Und werden von einigen SPDler*innen dann doch getrost ignoriert, da sie ja, ganz wie unsere Ministerpräsidentin, gar keinen Einfluss auf die Abschiebungen zu haben scheinen.
Positive Beispiele von Verantwortungsübernahme wie u.a. das des Innenministers (!) von Schleswig Holstein, Stefan Studt (SPD) dagegen, werden von längst nicht mehr sozialen Parteigenoss*innen kritisiert und diffamiert. Was man von der CDU erwartete, ist in der SPD längst Alltag geworden.
Die Wahrheit muss draußen bleiben
So blieb den Fragenden nichts anderes übrig, als nach diesen Ausführungen den Raum zu verlassen. Zumindest vor dem Gebäude wollten sie aber noch durch Schilder, Banner und Flyer inhaltlich Stellung zu den Abschiebungen und zu der offiziellen Haltung der SPD nehmen, um die Veranstaltungsteilnehmer*innen wenigstens auf ihrem Nachhauseweg zu erreichen.
In einigen Einzelgesprächen wurde dann deutlich, dass viele der Bürger*innen dem Thema der Abschiebungen ebenfalls kritisch gegenüberstehen, auch überzeugte Kraft-Anhänger*innen waren immerhin gespalten, was die fatale Situation der Betroffenen angeht.
Und somit konnten die Vertreter*innen von Nedaje Afghan trotz der äußerst unbefriedigenden Antworten in der Veranstaltung und des Misstrauens, das ihnen bereits im Vorfeld der Veranstaltung entgegengebracht wurde, auch Positives aus ihrem Besuch in Neuss ziehen.
Fazit: Abschiebestopp – jetzt! Wenn die Politik „der Mitte“ Menschen in den Tod schickt, müssen Bürger*innen auf allen Ebenen dagegen aktiv werden!
An jenem Montagabend wurden erneut 14 Menschen gegen ihren Willen von München nach Kabul abgeschoben (davon 7 aus NRW!). Erneut hat ein junger Mensch versucht sich das Leben zu nehmen, weil er nach Afghanistan abgeschoben werden sollte.
Das im Grundgesetz verankerte Grundrecht auf Asyl ist zu einem schlechten Scherz verkommen, wenn Menschen in ein Kriegsgebiet abgeschoben werden, um damit eine inoffizielle Obergrenze für Geflüchtete durchzusetzen.
„Straftäter-“ und „Gefährder“-Szenarien werden derzeit aktiv kreiiert und genutzt, um die Abschiebung tausender Menschen Stück für Stück umzusetzen und in der Gesellschaft zu legitimieren. Dagegen wurde u.a. von Pro Asyl ausführlich dokumentiert, dass bereits Menschen aus diversen Lebensverhältnissen, aus Familien Hinausgerissene, Kranke sowie Menschen aus nicht als „sicher“ benannten Gebieten etc. abgeschoben wurden. Und es ist konträr zu Frau Krafts Aussagen ganz sicher eine politische Entscheidung, wenn sich die Situation in Afghanistan nachweislich verschlechtert und die Anerkennungszahlen dennoch rapide sinken.
Und auch für Straftäter – wenn es diese denn gibt – gilt das Recht auf ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren, und auf den völkerrechtlichen Schutz vor Folter und Tod, auch wenn Parteifunktionär*innen von „Mitte“ bis Rechts das gerne ausblenden möchten.
Dass ihre Politik brüchig und angreifbar ist, solange Parteien wie die SPD noch versuchen ihren Wähler*innen gegenüber ihr soziales Gewand festzuhalten, das konnte am rigiden Umgang mit den von Abschiebung bedrohten Menschen und ihren Freund*innen in Neuss live erlebt werden. Daher sollte es weiterhin heißen: sich und andere informieren, Öffentlichkeit schaffen und die Verantwortlichen einer menschenverachtenden Abschiebepolitik mit ihrer Verantwortung für die Folgen konfrontieren!
Und auch praktisch dürfen die von Abschiebung bedrohten Menschen nicht alleingelassen werden!
#NRWIR sollte bedeuten: Nicht in unserem Namen!